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Ohne Holz keine Stadt

Veröffentlicht am: 19. Dezember 2022

Das Leitthema des Kurses Forstgeschichte im Bachelor-Studiengang Forstwirtschaft in diesem Semester ist „Wald und Sicherheit“: Nach Themen wie Wald und Konflikte oder Rechtssicherheit stand nun Versorgungssicherheit im Semesterprogramm.

Nahaufnahme eines Fachwerks

Foto: Das dreieckige Wiedloch an dem Haus in der Münzgasse beweist es: dieser Balken ist eindeutig aus dem Schwarzwald über den Neckar nach Tübingen geflößt worden.

Holz war über viele Jahrhunderte der wichtigste Baustoff für Gebäude in Mitteleuropa. Eine sichere Versorgung mit Holz war deshalb bis vor nicht allzu langer Zeit für unsere Gesellschaft überlebenswichtig.
Die Stadt Tübingen hätte ohne eine gesicherte Versorgung mit Bauholz aus dem Schwarzwald keine Universität bekommen. So die These von Tilmann Marstaller, Experte für historische Holzbauwerke, der die Studierenden am 6.12.2022 durch die Tübinger Altstadt führte und zahlreiche Belege für seine Überlegungen zeigte.
Bis zum 15. Jahrhundert wurden Gebäude in Tübingen überwiegend mit kurzschäftigen Laubhölzern, vorwiegend Eiche, aus dem Schönbuch errichtet. Erst durch die Versorgung mit langschäftigem Nadelholz aus dem Schwarzwald wurde es möglich, große Raumbreiten im Holzbau zu überspannen, wie sie mit dem Bau der Alten Aula, der Stiftskirche oder des Stifts bei Gründung der Universität notwendig wurden. Im Rückblick ist es beeindruckend, wie strategisch, schnell und planvoll es damals in Württemberg möglich war, große Bauprojekte umzusetzen: ab 1475 Einschlag der Stämme im Schwarzwald, 1476 Flößereivertrag zwischen der Grafschaft Württemberg und der mit Schwarzwaldflößen auf dem Neckar zu durchfahrenden österreichischen Grafschaft Hohenberg sowie Bau der ersten Uni-Gebäude, 1477 Gründung der Universität und Aufnahme des Lehrbetriebs. Marstaller unterstrich dabei die große Bedeutung der in Rottenburg residierenden Erzherzogin Mechthild, Mutter des württembergischen Landesherrn Graf Eberhard im Bart und in zweiter Ehe mit dem österreichischen Erzherzog Albrecht verheiratet.
Tübinger Gebäude, die bis zur Anbindung der Stadt an die Eisenbahn im 19. Jhdt. errichtet wurden, zeigen häufig Merkmale der Verwendung von Floßholz, z.B. die Löcher für die Wieden (Bild). Wieden sind aus Nadelholzstämmchen gefertigte flexible und starke Bänder, mit denen die Flöße zusammengebunden wurden.
Überraschend war in den Ausführungen von T. Marstaller, wie gut organisiert der Holzeinschlag und das Flößen, wie hochgradig standardisiert die Maße der bereits im Schwarzwald behauenen Balken und wie vollständig die Nutzung aller Teile eines Stammes waren. Eine ressourceneffiziente Nutzung fand in der Region also schon lange vor der Erfindung des Begriffs Nachhaltigkeit durch Hans Carl von Carlowitz im 18. Jhdt. statt.
Ohne sichere Versorgung mit dem zentralen Rohstoff Holz war menschliche Siedlung in unserer Region bis ins 19. Jahrhundert nicht denkbar. Man kann es auch so sagen: in der Tübinger Altstadt mit ihren beeindruckenden Fachwerkhäusern wurden einige Hundert Hektar Schwarzwald wieder aufgebaut. In einem sehr modernen Kontext speichern diese Holzbauten sie seit Jahrhunderten klimaschützend und dauerhaft Kohlenstoff.