Tierische Hilfe für mehr Artenvielfalt
Veröffentlicht am: 22. Oktober 2020
400 Experten fordern eine Erweiterung der Naturschutz- und Landwirtschaftsstrategien um eine umfassende Beweidungsstrategie
Online-Tagung der Umweltakademie in Stuttgart bringt naturnahe Beweidung auf die Naturschutz-Agenda.
Mehr Weidetiere im Offenland zur Förderung der Artenvielfalt und eine Erweiterung der Naturschutz- und Landwirtschaftsstrategien der Bundesländer, des Bundes und der EU um eine umfassende Beweidungsstrategie forderten internationale Naturschutzpraktiker, Landschaftsplaner, Wissenschaftler und Tourismusexperten am Mittwoch (21.10.20) beim Workshop der baden-württembergischen Umweltakademie „Wilde Weiden – Der Beitrag naturnaher Weidelandschaften zur Bewahrung der Biodiversität“, der pandemiebedingt im Livestream-Format stattfand.
Die in Reform befindliche Agrarförderung der EU müsse weidefreundlicher werden. Landesbezogene Ermessensspielräume müssten zudem besser ausgeschöpft werden, erklärte Dr. Alois Kapfer, Vorsitzender des Vereins zur Förderung naturnaher Weidelandschaften e.V., der gemeinsam mit der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg und der Umweltakademie Baden-Württemberg den wegweisenden Workshop initiierte.
„Ohne die finanzielle Förderung und den Wiederaufbau vernetzter extensiver Weidesysteme wird es nicht gelingen, die Ziele zur Erhaltung unserer biologischen Vielfalt zu erreichen,“ erklärte Prof. Dr. Rainer Luick von der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg. Mit dem Workshop, der mit 400 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet, des benachbarten Auslands und Südeuropas die Erwartungen weit übertraf, brachten die Veranstalter die naturnahe Beweidung auf die Naturschutz-Agenda.
„Die Potenziale von Weideflächen für die Biotopvernetzung und den Erhalt der Artenvielfalt wurde und wird in Naturschutzkreisen noch unterschätzt“, unterstrich Claus-Peter Hutter, Leiter der Umweltakademie Baden-Württemberg. „Die Entwicklungen und Erkenntnisse sind den Fachkreisen seit Jahrzehnten bekannt und werden auch intensiv diskutiert. Wirksame Strategien und vor allem nachhaltig wirksame Maßnahmen fehlen aber dennoch weitgehend“, ergänzte Prof. Dr. Luick. Durch naturnahe Weidelandschaften auf ausreichender Fläche könne der weitere Rückgang der Biodiversität aufgehalten werden.
Die Zusammenhänge von Weideflächen und Artenreichtum erklärte Dr. Jörn Buse vom Nationalpark Schwarzwald am Beispiel der Insekten.
„Weidetiere bewirken Störungen und fördern damit Vielfalt. Weideflächen beherbergen mehr größere Insekten und eine höhere Diversität großer Insekten als auf Wiesen oder Brachen. Das zeigen uns Studien. Viele Insekten stehen in Verbindung mit Pflanzenarten. Die Pflanzenartenvielfalt wirkt sich daher unmittelbar auf die Insektenvielfalt aus“.
Andreas Braun, Chef der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg stellte die Vorteile einer artenreichen Landschaft verbunden mit einer naturnahen Beweidung für die Wertschöpfung im Tourismus heraus. „Naturschutz und Tourismus können sich perfekt ergänzen, man denke nur an Ferien auf dem Bauernhof“, so Braun. Gerade in Pandemiezeiten erlebe diese naturnahe Form des Urlaubs einen enormen Aufschwung, der Nutzen für alle Seiten berge.
Mit Jesús Garzón, dem Präsidenten der Asociación Trashumancia y Naturaleza aus Spanien und seinem Beitrag zur Rolle der großen Pflanzenfresser für die Biodiversität erhielt der Workshop Bedeutung, der über die Landes- und Bundesgrenzen hin-ausgeht. „Naturnahe Beweidung ist der Schlüsselfaktor zum Erhalt der Artenvielfalt. Wir müssen vielmehr als bisher den eigenen Teller verlassen und über den Rand blicken. Jetzt ist die Chance gekommen, in der EU gehört zu werden und endlich verbindliche Rechtsgrundlagen auf Bundes- und Landesebene zu schaffen“, so Prof. Dr. Rainer Luick.
Die Forderungen der Naturschutzexperten:
- Mehr Weidetiere im Offenland zur Förderung der Artenvielfalt
- Ausschöpfung des landesbezogenen Ermessensspielräume bei der weidefreundlichen Ausgestaltung der EU-Agrarpolitik
- Verbesserung der finanziellen Förderung naturnaher Beweidung in den Pro-grammen des Naturschutzes und der Landwirtschaft
- Beseitigung zahlreicher administrativer Hemmnisse in Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Wasserwirtschaft, Naturschutz und Veterinärmedizin
- Erweiterung der landwirtschaftlichen Ausbildung um den Betriebszweig „Biodiversitätswirt“
Am 24. Februar 2021 wird das Thema in einem Folge-Kongress erneut aufgegriffen, um die Forderungen zu untermauern.
Hintergrund der Veranstaltung ist die Verdrängung der wilden Weidetiere wie Wildpferd, Auerochse oder Wisent und die Aufgabe der Hutweide von Nutztieren wie Rindern, Schweinen oder Ziegen seit 1800. Diese Tiere haben mit ihrem Fraß, Tritt und Dung die Landschaften Mitteleuropas in großen Maße mitgestaltet und wesentlich zu ihrer Artenvielfalt beigetragen. Mit Umstellung auf die industriell geprägte Landwirtschaft wurden viele naturnahe Weiden aufgegeben, auch dadurch geht die Vielfalt der Arten seit rund 200 Jahren stetig zurück. Durch die naturnahe Beweidung sollen im Sinne eines Biotopverbundes natürliche Zustände wiederhergestellt und artenfördernde Prozesse ermöglicht werden. Wie zahlreiche Weide-Pilotprojekte im In- und Ausland zeigen, wäre es mit einer gezielten Strategie zur naturnahen Beweidung auf relativ wenigen Prozent der Fläche kurzfristig möglich, entscheidende Beiträge zum Erhalt der Biodiversität im Offenland zu leisten.